Ich bin nicht tot,

ich tausche nur die Räume,

ich bin in Euch

und geh' durch Eure Träume

(Michelangelo)

 

v.l.n.r.: Jana, Steffen, Elke

 

Dresden, August 2008

Lieber Steffen!

 

Heute morgen war es mal wieder soweit: Ich war mit dem Auto unterwegs nach Görlitz zu einer Familienfeier. Sonntagmorgen, leere Straßen, blauer Himmel und wir fuhren der aufgehenden Sonne entgegen. Ein Traum. Mit Wir meine ich mich, meine 5jährige Tochter Helen und Marlen, mein zweites Töchterchen – ganze 8 Monate alt. Die Lütte nutzte die Fahrt für ihr Morgenschläfchen und Helen schnatterte - wie immer - unablässig. Ihr Lieblingsthema: Hochzeit. Ihr neuester Plan: Die Mama zu ehelichen. Offensichtlich läuft die vor vierzehn Tagen geschlossene „Probe-Ehe“  mit  Kindergartenfreund Jeremy nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte, und man denkt schon wieder an Scheidung.

 

Eigentlich war es der perfekte Moment. Bis, - ja, bis ich auf die Idee kam, den Sender des Autoradios zu wechseln. Ich schaltete um auf Jump und da war es wieder, dieses Gefühl von Abschied. Oder besser: Von einem Abschied, den es nie wirklich gegeben hat. Vielleicht ist das der Grund, warum ich manchmal denke, das hört nie auf. Warum ich mich auf der Straße immer noch nach Männern umsehe, die dir täuschend ähnlich sehen, und hoffe, dass du es bist und alles bloß ein blödes Mißverständnis war...

 

„...du hast jeden Raum mit Sonne geflutet...“ singt Gröni, und mir wächst eine Gänsehaut auf der man Käse raspeln könnte. Ja, Steffen, das hast du. Von dem Tag an, als du mir das erste Mal über den Weg gelaufen bist: Du hattest den „Wettlauf“ zum Kopierer gewonnen, und hast mir – ganz Gentleman – dennoch den Vortritt gelassen. Von dem Tag an war gute Laune Programm, und wenn es nur das andere Ende der Telefonleitung war, das einen mit dir verband. Deiner erfrischenden, immer (ungespielt!) freundlichen Offenheit konnte man nicht widerstehen, ich jedenfalls nicht. Und ich kenne eine Reihe von Kollegen, denen es genauso ging.

 

Irgendwann war es dann soweit. Eine der unzähligen firmeninternen Umstellungen führte uns zusammen: Elke, du und ich – vereint in einem Zimmer. Das Dreamteam. Naja, zugegebenermaßen nicht von Anfang an. Du warst nicht immer einfach, manchmal sogar überraschend sensibel, und es brauchte einige „reinigende Gewitter“, bis jeder von uns die Ecken und Kanten des anderen kannte. Letztlich hat uns jeder Streit noch enger zusammengeschweißt. Ab einem bestimmten Punkt waren wir so eingespielt, dass es keiner langen Reden mehr bedurfte, wenn gemeinsam Probleme zu lösen waren und gar keiner Worte, wenn Schweigen die beste Lösung war. Wer hätte damals schon gedacht, dass Schweigen einmal so weh tun würde?

 

Wieder zuhause, bin ich gedanklich noch immer bei dir und im Damals. In einem Kindervideo meiner Tochter heißt es: „Wir sind erst tot, wenn keiner mehr an uns denkt.“ Gut, dann will ich mal was für deine Unsterblichkeit tun, was nicht heißen soll, dass ich denke, ich sei damit allein! Wir alle vermissen dich, Elke ganz besonders. Dein Foto steht auf ihrem Schreibtisch. Oft stellt sie Blumen dazu und erinnert sich damit nicht nur selbst, sondern bringt dich so auch den anderen immer wieder in Erinnerung, holt dich also ins Leben zurück.

 

Ich finde ein Foto, Erinnerungsgabe bei deiner Beerdigung. „Lebe deinen Traum!“ steht darunter. Ich habe diesen Spruch nie verstanden, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit deiner Beerdigung. War Tauchen dein Traum? Ich weiß es nicht. Für mich sah es wie ein Hobby aus, eines von vielen, die du hattest. Aber wenn es nun dein Traum war? Muss man einen Traum leben, wenn er in einer solchen Katastrophe enden kann? Vielleicht gerade deswegen? War es der Kick? War er es wert? Ich kann dich nicht mehr fragen. Leider. Ich steh nicht auf Risiko und bin damit das ganze Gegenteil von dir. Ich weiß, dass ich den Spruch nie verstehen werde.

 

Dann fällt mir das Bild von uns Dreien in die Hände und mit ihm die Geschichte ein, die sich dahinter verbirgt. Ich glaube, wenn ich dich jemals verletzt habe, dann damals, im September 2001. Ich hatte geheiratet, und weil ein ausufernder Freundeskreis und der Umfang der sich bei dieser Hochzeit vereinigenden Familie nebst Anhang den Rahmen eindeutig zu sprengen drohte, hatten wir uns für eine Polterhochzeit mit geladenen Gästen entschieden. Ich weiß nicht warum, vielleicht aus Angst vor ungeplanten Überraschungsaktionen, hatte ich Euch nichts, gar nichts davon erzählt. Nur die Chefin war eingeweiht, denn eine Kollegin machte mir den beantragten Urlaub streitig und drohte so, uns die Hochzeitsreise zu vermasseln. Und als ich – Eheweib, das ich nun war – am ersten Tag auf Arbeit kam, und besagte Chefin plötzlich mit einem Monsterblumenstrauß hinter mir stand, und ich in Euren Augen sah: erst Schreck, weil ihr dachtet, ihr hättet meinen Geburtstag vergessen, dann Enttäuschung, als der Anlass der Gratulation raus war, da habe ich mir nur noch gewünscht, ein großes Loch möge sich unter mir auftun, in das ich reinfallen kann... Es gab kein Loch. Und ich schäme mich noch heute. Ich kann dir nicht mehr sagen, dass es mir leid tut. Und würde es doch so gern. Die Aufnahme entstand eine Woche später, als ich tatsächlich Geburtstag hatte, den ihr natürlich nicht vergessen habt. Wie auch.

 

Noch eine reichliche Woche später hattest du Geburtstag. Es sollte der letzte sein, den wir mit dir feiern durften. Du hattest dir ein Buch über die Tauchgebiete in Deutschland gewünscht, und wir haben dafür gesammelt. An diesem Tag hast du uns den „Kulki“ sogar noch im Buch gezeigt und erklärt. Wie soll man mit dieser Schuld fertig werden? Ja ja, ich weiß, du würdest sagen, wir haben keine Schuld. Vielleicht ist das so. Aber die Fragen bleiben. Wie kleine lästige kleine Fliegen schwirren sie einem immer wieder im Kopf herum, ohne Anspruch auf eine Antwort zu erheben.

 

Ein Jahr später war ich mit Helen schwanger. Ich hatte schon die ganzen Monate diesen albernen Spruch meiner Oma im Ohr: „Für jeden neuen Menschen, der zur Welt kommt, wird einer gehen.“ Dann erkrankte der Opa meines Mannes an Krebs. Ich dachte nur noch, bitte nicht er. Tja, dem Opa geht es heute wieder prächtig. Den Gedanken, der mich nicht mehr losläßt, brauch ich hier nicht hinzuschreiben. Neulich fand ich im Netz das Pendant dazu: „Wenn jemand stirbt, kommt ein Baby auf die Welt, damit die freie Seele nicht umherirren muss.“ Ich glaube, meine Oma hatte Unrecht.

 

Lieber Steffen, ich schreibe diese Zeilen, um meine Gedanken zu ordnen und, um mich mal wieder ganz intensiv an dich zu erinnern. Für uns bist du immer da, auf Bildern, in Gesprächen und in unseren Gedanken. Wir finden immer noch – nach 6 Jahren! - Akten, die du mal bearbeitet hast, Termine im System, die du mal gesetzt hast. Es ist, als würdest du uns zuzwinkern und dich ein bisschen über uns lustig machen, so wie damals! Du bist nicht tot – du hast nur den Raum getauscht!

 

Jana und Elke aus Dresden